Pilotprojekt

VÖ+

Der zunehmende Fachkräftemangel in Kindertageseinrichtungen wird in Deutschland für Familien, Kommunen, Mitarbeitende, Einrichtungsträger und nicht zuletzt die Kinder zu einem zunehmenden Problem. Vielerorts müssen Öffnungszeiten gekürzt oder sogar Gruppen oder ganze Einrichtungen geschlossen werden.

Neu gebaute KiTas können nicht oder nur teilweise in Betrieb genommen werden, weil das Personal schlicht nicht gefunden werden kann. Personelle Unterbesetzung führt zu hohen Krankenständen und einer hohen Teilzeitquote, da die Belastung zu hoch ist. Insbesondere die Ganztagsbetreuung (9 Stunden täglich) ist in vielen Städten derzeit kaum noch möglich oder wird zunehmend, teilweise sogar flächendeckend eingeschränkt.

Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Juli 2022 werden in Baden-Württemberg bis zum Jahr 2030 insgesamt 33.000 Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung fehlen. Hierbei nimmt die Studie nicht nur die Betreuung in den Blick, sondern wirft in verschiedenen Szenarien auch einen Blick auf die Rahmenbedingungen, die für eine gute Bildungsarbeit in der KiTa wichtig sind. Im Großen und Ganzen zeigt die Studie schon jetzt auf, dass die Fachkräfte-Lücke kaum geschlossen werden kann. Es geht also darum, in einer Zeit des Mangels dennoch eine gute Bildungsqualität zu leisten.

Rheinfelden denkt Betreuung neu

Mit diesen Themen im Blick stellt sich die Frage, wie die Bildung und Betreuung von Kindern sichergestellt werden kann? Wo können Kinder und Familien Betreuung finden, wenn schon knapp zehn Jahre im Voraus abzusehen ist, dass die Lücke kaum geschlossen werden kann?

Das Pilotprojekt der Stadt Rheinfelden (Baden) setzt an diesem Punkt an und stellt ein Konzept „VÖ+“ vor, welches Betreuung und Bildung unterscheidet und damit die pädagogischen Fachkraftstunden nur noch dort einsetzt, wo Bildungsarbeit gezielt initiiert und gemäß dem Baden-Württembergischen Orientierungsplan umgesetzt wird. Damit kann eine spürbare Entspannung auf dem Fachkräftemarkt hergestellt werden, ohne die Kosten zu erhöhen oder Einbußen in der Bildungsqualität in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig bietet das Konzept die Möglichkeit, den Eltern eine vollumfängliche, ganztägige Betreuung, im gewohnten Kostenumfang verlässlich bereitzustellen.

Es steht außer Frage, dass das Projekt nicht darauf zielen kann, den Ausbau von KiTa-Plätzen zu verlangsamen oder gar zu stoppen, der Ausbau von Plätzen muss unbedingt weiterverfolgt werden. Vielmehr geht es darum, die auszubauenden Plätze in Zukunft auch mit genügend Personal ausstatten zu können.

Wie funktioniert VÖ+?

Kleines Mädchen mit roter Uhr

VÖ+ steht für eine Betreuungsform, die zwischen Verlängerte Öffnungszeiten "VÖ" (6 Stunden pro Tag) und Ganztagsbetreuung "GT" (9 bis 10 Stunden pro Tag) steht.

Während bei der GT-Betreuung über die gesamte Zeit hinweg ausgebildete pädagogische Fachkräfte vor Ort sein müssen, ist dies bei VÖ+ nicht mehr vorgesehen. Im Rahmen dieser neuen Betreuungsform sind die pädagogischen Fachkräfte am Vormittag während der „VÖ-Zeit“ anwesend und führen die wichtige Bildungsarbeit mit den Kindern durch. In dieser Zeit wird sichergestellt, dass die Kinder alle Grundlagen erhalten, die es für eine gesunde und gelungene Bildungskarriere benötigt.

Am Nachmittag hingegen, werden die Kinder von zwei qualifizierten und speziell geschulten Zusatzkräften betreut, wobei eine pädagogische Fachkraft in der Kita abrufbereit ist.

Für Eltern und Kinder wird der Unterschied nicht spürbar werden. Für den Träger macht dieses Modell jedoch einen großen Unterschied, da im Rahmen von VÖ+ weniger pädagogische Fachkräfte erforderlich sind und diese Betreuungsform demnach trotz des erheblichen Fachkräftemangels eine tägliche Betreuung von 9 bis 10 Stunden für Kinder und deren Familien ermöglicht.

Fachkräfteschlüssel pro Gruppe

  • Verlängerte Öffnungszeit (30 Wochenstunden): 2,18
  • Ganztagsbetreuung (45 Wochenstunden): 3,19
  • Ganztagsbetreuung (50 Wochenstunden): 3,54

Im Vergleich zur GT-Gruppe wird pro VÖ+-Gruppe eine volle pädagogische Fachkraft „frei“, die vormittags in der elementaren Bildungsarbeit in weiteren Gruppen eingesetzt werden kann wo sie jetzt schon, durch den eklatanten Fachkräftemangel, fehlt. So stünden auch für den Kita-Ausbau wiederum mehr pädagogische Fachkräfte zur Verfügung.

Zudem hätten die pädagogischen Fachkräfte am Nachmittag ihre gesicherte Vor- und Nachbereitungszeit (die im Ganztagsbetrieb oftmals durch Vertretungsdienste hinfällig wird). Hier können sie gezielt Bildungs- und Lerndokumentationen erstellen, pädagogische Aktivitäten planen und Entwicklungsgespräche mit den Eltern führen. Dies führt zur Entlastung, mehr Verlässlichkeit und einer höheren Arbeitszufriedenheit, was wiederum der Personalakquise sehr dienlich ist.

Warum wird das Konzept noch nicht umgesetzt?

Um als Träger einer Kita eine Betriebserlaubnis zu bekommen, muss gegenüber dem Landesjugendamt (KVJS) nachgewiesen werden, dass die obigen gesetzlich vorgeschriebenen Personalschlüssel in der Einrichtung bereitgestellt werden. Hierbei ist sehr genau definiert, welche Berufsabschlüsse als „pädagogische Fachkraft“ definiert werden können. Qualifizierte Zusatzkräfte gehören nicht zur Definition, weshalb das Konzept „VÖ+“ derzeit nicht den Bestimmungen entspricht.

Die Stadt Rheinfelden (Baden) hat im November 2022 einen Antrag auf Sondergenehmigung zur wissenschaftlich begleiteten Erprobung des Konzeptes gestellt. Dieser wurde leider im Februar 2023 durch den KVJS abgelehnt. Er verwies zur Erteilung  von Sondergenehmigungen auf das Landesministerium, das wiederum zwischenzeitlich auf ein für 2026 vorgesehenes Maßnahmenpaket verwiesen hat.

Daraufhin hat die Stadtverwaltung gemeinsam mit dem Landkreis Lörrach im Februar 2023 einen Antrag auf Sondergenehmigung bei Frau Ministerin Schopper gestellt und zeitgleich Herrn Ministerpräsidenten Kretschmann um Unterstützung gebeten. Hierbei hat die Verwaltung deutlich aufgezeigt, dass ein Maßnahmenpaket, welches 2026 aufgelegt wird, viel zu spät kommt. Weiterhin haben Stadt und Kreis ihrem Unverständnis Ausdruck verliehen, dass neue Ideen in so schwierigen Zeiten kein Gehör finden. Leider haben auch Frau Schopper und Herr Kretschmann auf zukünftige Maßnahmen verwiesen und keine Sondergenehmigung erteilt.

Was kann getan werden?

Die Stadtverwaltung bittet Eltern und Interessierte um Unterstützung, indem sie sich an der Unterschriftenaktion, die in allen KiTas ausliegt, beteiligen oder selbst an das Ministerium schreiben.

Die Stadtverwaltung möchte ihren Antrag auf Sondergenehmigung erneuern und diesen mit möglichst vielen Unterschriften von Eltern verstärken. ƒEs soll versucht werden, mit den Unterschriftenlisten eine Genehmigung zur Erprobung des Projektes zu erhalten.